Verlegerin Dr. Nora Pester über Vertrauen, Erwartungen und Markenpflege bei Hentrich & Hentrich

© Thomas Schneider
Im Mai durften wir Verlegerin Dr. Nora Pester von Hentrich & Hentrich, einer unserer assoziierten Verlage im Projekt, interviewen. Der Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte hat 2018 seinen Hauptsitz von Berlin nach Leipzig verlagert und stellt damit den Beginn einer neuen Ära jüdischen Verlagslebens in Leipzig dar. Außerdem hat Hentrich & Hentrich 2020 den Förderpreis der Kurt-Wolff-Stiftung und den jüngst verliehenen Deutschen Verlagspreis erhalten. Nora Pester sprach mit uns über Vertrauen, Erwartungen, das Kreieren einer Verlagsmarke, aber auch über deren Pflege und Weiterentwicklung.
Liebe Nora, schön, dass du dir die Zeit für ein paar Fragen von uns nimmst. Erzähl uns gern zuallererst einmal, wer oder was ist Hentrich & Hentrich?
Der Hentrich & Hentrich Verlag hat sich als einziger Buchverlag im deutschsprachigen Raum ausschließlich auf Veröffentlichungen zu jüdischer Kultur und Zeitgeschichte in einem Umfang von rund 60 Neuerscheinungen pro Jahr spezialisiert. Derzeit sind über 500 Titel unseres Programms lieferbar. Und zur Verlagshistorie: 1982 gründete der Drucker Gerhard Hentrich (1924–2009) in Berlin-Steglitz die Edition Hentrich, deren Publikationen vor allem der Geschichte und Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des Holocausts, der Exilforschung sowie der Theatergeschichte gewidmet waren. Nach dem Verkauf der Edition gründete die Familie 1998 den Verlag Hentrich & Hentrich und setzte diesen Programmschwerpunkt fort. Seit 1. Januar 2010 bin ich die Verlegerin und alleinige Eigentümerin des Verlags. Das Verlagsprogramm wurde im Zuge der Neugründung ganz auf Judentum, jüdische Kultur und Zeitgeschichte ausgerichtet. Im September 2018 haben wir unseren Hauptsitz von Berlin in meine Heimatstadt Leipzig verlegt.
Diesen Monat möchten wir uns im Forschungsprojekt intensiv mit dem Thema „Markenbildung in der Buchbranche“ beschäftigen. Können Verlage sich als Marke etablieren, was meinst du?
Ja, meines Erachtens ist Markenbildung und -pflege insbesondere für kleine und spezialisierte Verlage nahezu unerlässlich geworden, um den eigenen Themen und Titeln in der gigantischen Flut jährlicher Neuerscheinungen einen Wiedererkennungswert zu geben. Aber eine Marke zu bilden und zu erhalten ist keine einmalige Aktion. Sie bedeutet, dauerhaft Qualität sicherzustellen, seiner verlegerischen Verantwortung, dem Vertrauen und den Erwartungen von Autor*innen, Partner*innen und Leser*innen gerecht zu werden. Das ist ein in jeder Hinsicht nicht zu unterschätzender Kraftakt, insbesondere bei sehr begrenzten finanziellen und personellen Ressourcen.
Wie würdest du die Marke Hentrich & Hentrich beschreiben?
Wir machen alles, was jüdisch ist. Und das beschränkt sich nicht nur auf das Produkt Buch. Die Vielfalt jüdischer Geschichte und Kultur findet auch in unseren Aktivitäten rund um die Themen unserer Bücher und in unserem Netzwerk aus Autor*innen, Institutionen und Projekten ihren Ausdruck. Und schließlich hoffe ich, dass wir auch als Persönlichkeiten ganz individuelle Marken sind.
Deinem Verlag Hentrich & Hentrich wurde letzte Woche als einem von 60 der Deutsche Verlagspreis 2020 verliehen, der jeweils mit 20.000 Euro dotiert ist. Herzlichen Glückwunsch! Was denkst und fühlst du gerade dazu?
Wir sind wirklich sehr dankbar für den Deutschen Verlagspreis, den wir 2020 zum ersten Mal erhalten. Trotzdem ist unsere Freude darüber nicht ungetrübt, weil wir die Enttäuschung der nicht Ausgezeichneten, insbesondere in diesen schwierigen Zeiten, sehr gut nachempfinden können. Wir alle sind Teil der zu Recht immer wieder für ihre gesellschaftliche Bedeutung gelobten vielfältigen deutschen Buchkultur.
In der Ausschreibung des Deutschen Verlagspreises heißt es, dass das Verlagsprogramm, kulturelles Engagement, die Innovativität der Projekte und eine besondere Qualität der verlegerischen Arbeit für die Auswahl entscheidend sind. Welches Augenmerk hast du als Verlegerin bei der Bewerbung um den Preis gesetzt? Oder anders gefragt: Was ist dein verlegerisches Alleinstellungsmerkmal?
Ich tue mich schwer mit dem Begriff „Alleinstellungsmerkmal“ und versuche, ihn zumindest in der externen Kommunikation zu vermeiden. Er impliziert für mich auch „Abgrenzung“. Kein Unternehmen kann jedoch erfolgreich am Markt bestehen, wenn es sich „allein stellt“. Es geht doch vielmehr darum, die eigenen Kompetenzen zu entwickeln und zu stärken, ja, diese auch zu vermarkten, und zugleich zu wissen, in welchen Bereichen man lieber auf die Expertise Dritter vertraut, um dann in Kooperation sein Bestes in die Waagschale werfen und es zugleich mit dem Besten des Anderen kombinieren zu können.
Wie findest du dein Programm, neue Themen, Titel und Autor*innen?
Überall. So wie das jüdische Leben selbst, seine Geschichte und Spuren.
In der Begründung von Kulturministerin Monika Grütters heißt es zu den Gewinnern, dass sie „sich thematisch und stilistisch von Markttrends und vom Massengeschmack abheben“. Wie verhält sich Hentrich & Hentrich zu Markttrends und Massengeschmack?
Das liegt schon allein in unserer thematischen Spezialisierung begründet. Ich fände es aber anmaßend, dabei Markttrends völlig zu ignorieren oder nicht trotzdem auch den Anspruch zu verfolgen, mit seinen Publikationen und Veranstaltungen ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Da besitze ich durchaus noch einen gewissen missionarischen Eifer.
Zwei unserer assoziierten Verlage, der Merve Verlag und Hentrich & Hentrich, gehören in diesem Jahr zu den Preisträgern. Beide Verlage verzeichnen einen Inhaberwechsel in ihrer Historie. Ihr seid jeweils die 2. Verleger*innen-Generation, wenn man so will. Welches Entwicklungs- und Veränderungspotenzial besitzen Verlagsmarken deiner Meinung nach?
Ein sehr starkes. Der Verleger oder die Verlegerin muss sich nur trauen, auf dem Fundament der Tradition auch Neues zu wagen. Ich glaube, hier braucht es – wie überall – eine gute Mischung aus Respekt und Mut.
Und zuletzt: Stell uns doch gern kurz ein Buchprojekt von Hentrich & Hentrich vor, das sinnbildhaft für sein Programm steht. Wir sind neugierig!
Puh, genau das eine Sinnbild versuche ich ja immer wieder in Vielfalt aufzubrechen. Zugleich haben wir aber tatsächlich ein solches in unserer Verlags-DNA: Wir werden immer noch sehr mit den „Jüdischen Miniaturen“ identifiziert, die mittlerweile über 250 Bände umfassen. In den ersten Jahren haderte ich etwas damit, machte immer wieder darauf aufmerksam, dass wir noch sooooo viele andere Titel veröffentlichen. Mittlerweile habe ich mich aber damit abgefunden und mehr noch, habe ich diese vermeintliche Reduktion als Chance begriffen, mit einem „Markenkern“ das Fenster für die Wahrnehmung unseres gesamten Programmspektrums zu öffnen. Seitdem ich das akzeptiert und nicht mehr bewusst gegengesteuert habe, läuft es viel entspannter und erfolgreicher. Und unser Mut, unser historisch-biographisches um ein politisches Buchprogramm zu erweitern, wurde auch belohnt. Nicht nur mit zustimmendem Lob, aber wir sind im Gespräch. Und das sollte doch eigentlich das Ziel eines jeden Verlags sein. Finde ich.
Herzlichen Dank für das Interview, liebe Nora Pester!